Das deutsche Wirtschaftswunder

Um das deutsche Wunder oder das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland zu erklären, bedarf es keines Rückgriffs auf übernatürliche Mächte. Eine Konstellation aus günstigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Voraussetzungen im Umfeld des beginnenden kalten Krieges warf den Motor des wirtschaftlichen Aufstiegs an. Eine Person symbolisiert dieses Wirtschaftswunder. Ludwig Ehrhardt stellte mit seiner Wirtschaftspolitik die Weichen für den ökonomischen Neubeginn der Bundesrepublik Deutschland.

Ein noch heute aktueller Begriff ist von dem Thema Wirtschaftswunder nicht zu trennen. Derjenige der sozialen Marktwirtschaft. Er entstand, als sich nach und nach die deutschen Parteien neu gründeten und ihre Leitsätze und Prinzipien formulierten. Die CDU besaß einen starken gewerkschaftlichen Flügel, der das Ziel eines christlichen Sozialismus ins Auge gefasst hatte. Konrad Adenauer setzte den Begriff der sozialen Marktwirtschaft dagegen. Darin lag die Ablehnung jeder Form von Planwirtschaft. Angestrebt wurde ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit, erarbeitet von freien und tüchtigen Menschen im Ordnungsrahmen des Staates. Einen besonderen Streitpunkt bildete die Demontagepolitik der Besatzungsmächte. Um ein Beispiel zu nennen: Bis zum Sommer 1945 bauten die Sowjets in Berlin Industrieanlagen im Wert zwischen 3,5 bis 4 Milliarden Mark ab. Die Demontagen schädigten die Wirtschaft der DDR nachhaltig. Der FDGB, der freie deutsche Gewerkschaftsbund innerhalb der Sowjetzone rührte sich nicht. Ganz anders im Westen. Auch dort kam es Demontagen, die von den Gewerkschaften und den Arbeitern mit wütenden Protesten beantwortet wurden. Die Abbruch- und Demontagearbeiten wurden boykottiert. Was aus heutiger Sicht ein Nebenschauplatz zu sein scheint, besaß psychologische und soziale Auswirkungen. Sie schuf ein Fundament, auf dem Unternehmer, Arbeitnehmer und Gewerkschafter für viele Jahre und trotz aller Differenzen und Konflikte gemeinsame Interessen finden konnten. Führt man sich vor Augen, dass sich manchmal ehemalige KZ-Insassen und ehemalige SS-Mitglieder gegenübersaßen, war das keine Selbstverständlichkeit. Das Beispiel beleuchtet eine weitere Tatsache. Der Bombenkrieg der Alliierten hatte große Zerstörungen angerichtet. Die Leistungsfähigkeit der Industrie war davon aber weit geringer betroffen als es scheint. Mit anderen Worten: Wohnungen gab es keine, die Basis für industrielle Produktion existierte sehr wohl.

Noch vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland traf Ludwig Erhardt die richtungsweisende Entscheidung. Als Direktor des Wirtschaftsamtes für das Vereinige Wirtschaftsgebiet, das die drei Besatzungszonen der Amerikaner, Briten und Franzosen umfasste, erließ er am 24. Juni 1948 das ´Gesetz zur Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform`. Diese Währungsreform hatte am 20. Juni stattgefunden. Jeder Bewohner der Westzone erhielt für 40 Reichsmark 40 DM, die Spareinlagen wurden offiziell im Verhältnis 10 zu 1 umgetauscht, tatsächlich gab es für 100 Reichsmark 6,50 DM. Zum Ärger der amerikanischen Militärregierung wurde die Rationierung für 4000 Artikel aufgehoben. Diese Verbrauchsgüter füllten in den nächsten Tagen die Schaufenster. Allerdings stiegen die Preise derart, dass einkommensschwache Schichten von der Konsumfreiheit nicht profitieren konnten. Im November 1948 riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf.

Das Wirtschaftswunder ließ auf sich warten. 1950 lag die Arbeitslosenquote bei 11,4 Prozent. Der Koreakrieg ließ die Rohstoffpreise steigen. Die Zahlungsbilanz war defizitär. Adenauer, Erhard und die Regierungsparteien behielten ihren Kurs bei. Ab 1951 zeigten sich endlich die Erfolge. Es gab einen Exportüberschuss. Ab 1952 ließ die starke Auslandnachfrage die Handelsbilanz ins Plus gleiten. Zu den schon genannten Voraussetzungen für das Wirtschaftswunder sind noch einige andere zu zählen: Die Bundesrepublik brauchte bis 1955 keine Armee zu unterhalten, ebenso gab es kein Kolonialreich, das zu liquidieren war. Die Bundesrepublik verfügte über einen großen Bestand bestens ausgebildeter und hochmotivierter Arbeitskräfte. Wenn zerstörte Produktionsstätten neu aufgebaut wurden, geschah das mit der neuesten Technik und auf höchstem Entwicklungsstand. Schließlich führten weltpolitische Ereignisse dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland von den Siegermächten kurz nach Ende des 2. Weltkrieges zuerst als Partner, dann als Verbündete behandelt wurde. Dem deutschen Wiederaufbau kam die Hilfe des US-Marshallplans zugute. Mit der Gründung der Montanunion wurde nicht nur das Fundament der heutigen EU gelegt, sondern es fielen Produktionsbeschränkungen fort und politische Unsicherheiten schwanden.