Anthroposophie

Anthroposophie bedeutet Menschenweisheit. Rudolf Steiner (1861 - 1925) ist ihr Begründer und die bis heute überragende Gestalt. Steiner nutzte seit etwa 1902 die Bezeichnung Anthroposophie, um seine Lehre von der Theosophie, der Gottesweisheit, abzugrenzen. Rudolf Steiner selbst war allerdings mehr als ein Jahrzehnt führend in der Theosophischen Gesellschaft tätig.

Die Entstehung der Anthroposophie ist erst vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts verständlich. Religiöse Gewissheiten schwanden, die Industrialisierung führte zu sozialen Umwälzungen. Die Wissenschaft etablierte sich als profane Religion. Viele Menschen empfanden den wissenschaftlichen Materialismus als abstoßend und inhuman. In diesem geistigen Klima gründete Helena Petrowna Blavatsky (1831 - 1891) 1875 die Theosophische Gesellschaft. Blavatsky selbst wird als die größte Okkultistin des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Ursprünglich sollte sich die Theosophische Gesellschaft mit dem Studium okkulter Erscheinungen und dem Erwerb höherer Weisheit beschäftigen. Der Einfluss der indischen Religion und Philosophie wuchs im Verlauf der Entwicklung stark an. Als 1902 eine deutsche Sektion gegründet wurde, hieß der Generalsekretär Rudolf Steiner.

1861 im damaligen Ungarn geboren, wuchs Steiner in Österreich auf. Er studierte an der Technischen Hochschule in Wien, wurde mit 21 Jahren mit der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften beauftragt und promovierte 1891 mit einer Arbeit über Erkenntnistheorie. Schon hier werden zwei große Linien im Denken Steiners sichtbar: der Bezug auf Goethe und die Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnis. Steiner zog 1897 nach Berlin um. Dort arbeitete er als Lehrer an der Arbeiter-Bildungsschule, wirkte an mehreren Zeitschriften mit und beteiligte sich eifrig am kulturellen Leben der Reichshauptstadt. Obwohl er wichtiger Vertreter der Theosophischen Gesellschaft war, entfernte sich Steiner immer weiter von deren Doktrinen. Er bestand auf dem Wert der westlichen Wissenschaft und versuchte, die indischen philosophischen Begriffe in den Hintergrund zu drängen. Zudem war ihm die oft radikale Ablehnung des Christentums innerhalb der Theosophischen Gesellschaft ein Dorn im Auge. Als Annie Besant, die Nachfolgerin Blavatskys, den Hindu-Knaben Krishnamurti als neue Verkörperung Christi etablieren wollte, kam es zum endgültigen Bruch. Anfang Februar 1913 gründete sich die Anthroposophische Gesellschaft in der Nachfolge der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Etwa 90 Prozent der deutschen Theosophen standen auf der Seite Steiners.

Bis zu seinem Tod 1925 trieb Steiner die Entwicklung der Anthroposophie voran. Er schuf eine Lehre der unsichtbaren Welten. Aus seiner Sicht besteht der Mensch aus verschiedenen leiblichen und seelischen Schichten, die ihn mit der mineralischen, pflanzlichen, tierischen und geistigen Welt verbinden. Steiners Soziallehre stützt sich auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus. Durch sie sollten die Forderungen der französischen Revolution zeitgemäß umgesetzt werden. Mit der Eurhythmie entstand auf seine Anregung hin eine Kunstform zwischen Tanz, Theater und Gesang. Die Waldorfschule in Stuttgart wurde gegründet, um Steiners pädagogische Erkenntnisse umzusetzen. Mit der Christengemeinschaft fand die anthroposophische Interpretation des Christentums ihre Organisationsform. Auch auf den Gebieten der Landwirtschaft und der Medizin gab Rudolf Steiner Impulse, die durch seine Anhänger bis heute weiterverfolgt werden. Im schweizerischen Dornach entstand mit dem Goetheanum das Zentrum der Anthroposophie.